(1) Am Begriff des Zufalls und seiner Deutung wird vieles, sehr vieles klar. Dazu ein paar interessante Zitate: Zufall ist ein Wort ohne Sinn, nichts kann ohne Ursache existieren (Voltaire). Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will (Albert Schweitzer). Die Entstehung des Lebens auf der Erde mit dem Zufall zu erklären, heißt, von der Explosion einer Druckerei das Zustandekommen eines Lexikons zu erwarten (Edwin Conklin). Der Zufall bevorzugt den vorbereiteten Geist (Louis Pasteur). Zufall ist der gebräuchlichste Deckname des Schicksals (Theodor Fontane). – Alle fünf Zitate verdeutlichen das Ungenügende einer Idee des reinen Zufalls und vertreten dabei jedes für sich einen signifikanten Aspekt: Voltaire etwa legt den Finger in die Wunde der konzeptionellen Undenkbarkeit von Vorgängen ohne jegliche kausale Verkettung oder Einbindung. Schweitzer hebt darauf ab, dass ein steuerndes Prinzip auch dann wirksam werden kann, wenn es unsichtbar ist. Conklin greift die empfindlichste Schwachstelle der Evolutionslehre an, wenn sie alles Leben einschließlich seiner Vorstufen entgegen mathematischer Plausibilität über formende chaotische Prozesse beschreibt. Pasteur wiederum öffnet den Blick für den Zusammenhang des wahrscheinlicheren Eintritts von hilfreich Unerwartetem bei vorbereitender Aufladung, also der Koppelung von Schlüssigkeit und Energieballung. Fontane wiederum lenkt den Blick auf die Folgerichtigkeit auch unverstandener Lebensumstände und die metaphorische Kulisse, in der sich das Zwingende allen Lebens darbietet.
(2) Auch Zufälle passieren ncht zufällig, und es ist kein Zufall, dass dem so ist. Denn gäbe es die Wahl, dass sie sich zu anderer Zeit, an anderem Ort einstellten, wären sie keine. Es kann sie darum letztlich gar nicht geben!
(3) Zufälle müssten in zufälliger Konstellation und völlig unerwartbar eintreten, um als zufallsgeboren zu gelten. Und auch diese zufällige Konstellation hätte wieder zufällig entstanden sein müssen, um jegliche andere Sinnfügung sicher auszuschließen – und so weiter rückwärts und so fort, bis man bei der Entstehung des Kosmos anlangt und am Ende ein ganzes, riesiges Zufallsgebäude errichtet: schwerlich vereinbar damit, dass bereits Zufällen, generiert von Zufällen, etwas zutiefst Schlüssiges anhaftet, einem komplexen Zufallsgeschehensgebäude erst recht.
(4) Nietzsche zufolge nimmt die Liebe zum Schicksal mit dem Alter zu. Amor fati sei ein kugelsicherer Panzer, der Zweifel, Bedauern und Selbstkritik abprallen lasse und für die Reise ins Ungewisse mit Zuversicht und Selbstvertrauen ausstatte, liest man dazu auf denkbrocken.de im vergeblichen Bestreben, Nietzsches Gedanken extra tiefsinnig auszudeuten. Dennoch wahr, wenigstens prinzipiell? Obwohl jedes Prinzip von inhärenten Widersprüchen durchlöchert ist?
(5) Die Chiffre des Nichts und sein Pendant Zufall sind ihrem großen Antagonisten Gott in weiten Teilen wesensverwandt. Bei jedem der drei handelt es sich um eine definitorische Leerstelle, die blinde Flecken des Verstehens zudeckt und als Platzhalter für substantielle Ratlosigkeit operiert. Gewissheit dennoch zu vermitteln, im Sinne zweifelsfreier, innen geschauter, außen vertrauter, verlässlicher und belastbarer Klarheit, gelingt allerdings nur der Chiffre Gott. Es ist an uns, sie nun zu entmystifizieren und zur Erlangung höherer Weisheit und gesteigerter Tatkraft auch zu dechiffrieren. Die beiden anderen werden sich im selben Augenblick auflösen.
(6) Je weniger Zufälle wir am Werk sehen, desto produktiver wird unser Leben – und umgekehrt. Die Redeweise vom Zufall ist eine gefräßige Chiffre fürs Nichtverstehen sinnhaften Verknüpftseins; je häufiger wir sie anwenden, desto kontextloser und energieloser treiben wir dahin, desto weniger zwingend leben wir, indem ohne Kontexte die so bedeutsame dynamische Wirkung von Sinnverknüpfungen verdorrt. Je öfter es uns dagegen gelingt, auch entfernte Zusammenhänge schlüssig auszuleuchten, desto schlüssigere Ereignisse treten in unser Leben, die an energetischer Dichte und schicksalhaftem Wert immer noch zulegen: Pasteur hatte eine Ahnung davon.
(7) Es gibt nichts Widersinnigeres als die Rede von Zufällen. Qed.
Der Zufall ist aber viel stärker, als Sie es annehmen. Diese ganz großen Entwicklungen sind unvermeidbar, aber das Geschehen in diesen Bahnen ist sehr stark zufällig, da muß man nicht penibel suchen.
Wenn man es ganz hart nimmt, könnte es ja sein, daß ein Punkt erreicht wird, an dem die Entwicklung nicht mehr gesteuert werden kann, sondern daß man Dinge vorbeireiten muß, die so komplex sind, daß das Ergebnis wirklich vom Zufall abhängt. Und wenns daneben geht, dann kein Paradies. Da ist die gute alte Religion natürlich angenehmer: ein paar vergelichsweise simple Regeln, und alles geht klar.
Zunächst muß man den Begriff genauer definieren. Die Wahrscheinlicheitstheorie ist da hilfreich. Wenn ich eine Münze werfe, ist das Ergebnis zufällig. Das mechanistische Weltbild hat sein gut hundert Jahren ausgedient. Bei der genaueren Eindordnung muß man fehlende Information von echtem Zufall unterscheiden. Viele Dinge erscheinen uns zufällig, die mit, praktisch natürlich unerreichbarer, der Gesamtinformation schon vorhersehbar gewesen wären. Wenn zum Beispiel ein Zug verspätung hat, kann das daran liegen, weil irgendein Signal in einem Bahnhof ausgefallen ist. Hätte dies auch eine Stunde später, oder erst am nächsten Tag geschehen können ? Da müßte man einen Physiker fragen. Steter Tropfen höhlt den Stein, aber wann genau ist er hohl genug ? Es gibt aber auf jeden Fall viele zufällige Prozesse, und…